Er hat sie nach dem Einchecken in der Hotellobby kurz gesehen. Sie trug ein blumiges Kleid, geeignet für die Sommerzeit. An die Farbe erinnert er sich nicht mehr. Er erinnert sich nur daran, dass sie so unglaublich schön aussah, dass er vergessen hat, sie mit Worten zu begrüßen. Er erinnert sich nur daran, dass sie allein war. Oder nicht ganz allein. Sie hatte den Rechner dabei. Nicht der richtige Begleiter für einen wunderschönen Urlaub in Kroatien, oder?
Am zweiten Tag ist das Wetter deutlich besser geworden. Der extravagante Sonnenschein beleuchtet den großen Balkon des Hotels am Meer. Er ist zu früh aufgestanden. Zu früh für Kroatien jedenfalls, befürchtet er, als ob es nicht genug zu tun gibt, um den Tag zu füllen. Er hat gerade angefangen mit dem Buch Earthly Powers, teilweise weil er es auf einer Lieblingsbücherliste von David Bowie gesehen hat. Er hat zu wenig Zeit für Literatur. Die letzte drei Bücher, die er gelesen hat, hatten alle mit seinem Job zu tun. Natürlich braucht man gewissen Fähigkeiten und Kenntnisse, damit man kompetent arbeiten kann. Aber die Literatur ist die Grundlage, weswegen das Leben überhaupt Sinn macht, oder? Eine faszinierende Mischung von Wahrheit und Unwahrheit. Pass auf, nicht Lüge. Eine Unwahrheit ist nicht unbedingt eine Lüge. Die Erinnerung ist eine Unwahrheit, zum Beispiel. Anthony Burgess hat gemeint, dass die Erinnerungen von einem Schriftsteller nicht zu vertrauen ist. Das stimmt. Aber es gibt keine Erinnerung, die nicht subjektiv ist. Und was ist eine Hoffnung? Sie ist eine Wahrheit im Sinne davon, dass sie eine wahre Hoffnung ist. Aber sie ist gleichzeitig eine Unwahrheit, weil sie keine Realität ist. Frühstückzeit. Der Strand ist nicht weit von Hotel. Komischerweise hat das Hotel keinen eigenen Strand. Er schaut sich um, und alle sind in Paaren. In Paaren oder in Gruppen. Jemand hat ihn beim Abendessen gefragt, da er fast der einzige „Einzelgänger“ war: was suchst du? Er hat geantwortet, ein bisschen erstaunt: warum muss ich etwas suchen? Meistens ist das Alleinsein nur nicht in Ordnung für diejenigen, die nicht allein sind. Er fragt sich warum. Heute trägt sie ein anderes blumiges Kleid. Kürzer vielleicht, und genauso schön wie gestern. Beim Frühstück sitzt sie allein und liest etwas auf dem Handy die ganze Zeit. Er ist fast fertig als sie gekommen ist, aber holt sich einen zweiten Kaffee und setzt sich gegenüber ihr. Er möchte einfach herausfinden, warum sie allein ist. Sie lächelt freundlich, und sagt „Hallo“. „Warum bist du allein?“ Er hat sich nicht bemüht, um die Frage auf einer aufwändigen Weise zu stellen. „Ist die richtige Frage nicht, warum sind nur wir zwei allein? Sind wir alle als Einzelpersonen geboren, nur damit, dass wir in der Lebenszeit unser berechtigtes Alleinsein und unsere schwergewonnene Unabhängigkeit aufgeben können?“ Sie hat eine weiche Stimme, wie er erwartet hat. „Meinst du, dass wir besser dran sind, wenn wir alle allein sind?“ „Nein, das weiß ich nicht. Das Baby ist sicher nicht besser dran ohne die Mama. Es geht um gesellschaftliche Normen, und was ist erwartet von uns. Es geht um Gleichförmigkeit. Es geht um die Sicherheit, die kommt, wenn du bei der Mehrheit stehst. Und wir brauchen Sicherheit. Manchmal auch zu viel, vielleicht. Aber es ist auch immer so. Man kann ein Tausend Ausreden finden, um seine Wahl zu begründen. Meistens machen sie auch keinen Sinn. Ich bin genauso voreingenommen wie du, oder die andere. Zu diesem Thema sind wir zufällig auf der gleichen Seite, oder?“ „Magst du an den Strand gehen? Sollte nicht so weit weg sein. “ „Nein, danke. Ich muss noch jemanden anrufen.“ Den Kaffee hat er bisher nicht berührt. Er weiß auch nicht, ob er sich besser fühlen würde, wenn er eine Begleiterin hätte. Mindestens können sie gemeinsam an den Strand gehen. Mindestens können sie gemeinsam frühstücken. Mindestens können sie in den Augen anderer nie allein sein. Ist das dann nicht feierwert? Ist das dann nicht der Sinn des Lebens? Das Alleinsein trotz der verschwindend geringen Chancen zu besiegen? Gibt es wirklich ein besseres, wenn die Vergleichsobjekte in verschiedenen Dimensionen bestehen? Warum möchten wir vergleichen überhaupt? Vielleicht hat sie doch jemanden, denkt er mit einer Gleichgültigkeit, von der er nicht weiß, dass er im Besitz hat. Sie sind nur Flüsse, die zu diesem bestimmten Zeitpunkt aufeinanderstoßen. Solange sie noch Flüsse sind, müssen sie in eine oder andere Richtung fließen. Sie müssen fließen und erkunden und sich verändern. Sie müssen nichts Bestimmtes suchen. Aber sie müssen schon etwas finden, egal absichtlich oder unabsichtlich. Etwas Schönes. Erinnerungswertes. Auch wenn Erinnerungen lügen. Er hat sie an dem dritten Tag nicht mehr gesehen. Sie und die blumigen Kleider. Und das Sommersgefühl. Die Sonne scheint noch stärker. Er weiß immer noch nicht, was besser ist. Er beschließt, dass das auch nicht so wichtig ist.
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March 2023
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